Rede von Eva Szepesi bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus
Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin Bas!
Sehr geehrter Herr Bundespräsident Steinmeier!
Sehr geehrte Mitglieder des Bundestages!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Es ist mir eine große Ehre, heute hier sprechen zu dürfen.
Ich bin sehr glücklich, dass ihr, meine lieben Töchter, Enkel und Urenkel, hier anwesend seid. Ihr gebt mir so viel Kraft und Liebe. Euch gibt es, weil ich vor 79 Jahren, am 27. Januar 1945, von der Roten Armee als Zwölfjährige in Auschwitz-Birkenau befreit wurde.
(Beifall)
Aber lassen Sie mich von vorne beginnen. Mein Name ist Eva Szepesi. Geboren bin ich am 29. September 1932 als Diamant Eva in einem Vorort von Budapest. Ich hatte eine glückliche Kindheit mit meinen lieben Eltern, meinen Großeltern und meinem kleinen Bruder Tamás - bis zu meinem sechsten Lebensjahr. Dann traten auch in Ungarn, 1938, die Rassengesetze der Nazis in Kraft, und damit begannen die Diskriminierungen gegen die Juden im Alltag. Ich musste meine geliebten Haustiere abgeben - nur weil ich Jüdin bin. Ich durfte nicht mehr ins Schwimmbad - nur weil ich Jüdin bin. Ich spürte die Ausgrenzung in meiner Schule, auch von meinen besten Freunden - nur weil ich Jüdin bin.
Vor unserem Haus stand eine schöne alte Wasserpumpe. Ich spielte dort oft mit meinen Freunden. Eines Tages, ich war damals acht Jahre alt, ging ich fröhlich durch unser Gartentor. Ich sah verwundert, dass zwei von meinen Freunden ein rohes, blutiges Stück Fleisch unter den Wasserstrahl hielten. Plötzlich drehte sich einer um und entdeckte mich. „Was glotzt du so blöd, Saujüdin?“, schrie er mir entgegen. Ich starte ihn verblüfft an. Da rief einer meiner besten Freunde: „Ja, schau ruhig her! Genauso wie von diesem blutigen Stück Fleisch wird auch bald das Blut von deinem Vater fließen!“
Mein Vater, der mir entgegenkam, sah die Tränen in meinen Augen. Er drückte mich ganz fest an sich. „Ich weiß: Deine besten Freunde, das tut weh. Jemand hat sie gegen uns aufgehetzt. Sie tragen keine Schuld.“
Mein Vater musste 1942 wie fast alle jüdischen Männer zum Arbeitsdienst, genannt Munkaszolgálat. Er bekam keine Uniform, nur eine gelbe Armbinde, die ihn als Jude kennzeichnete. Unter Quälereien und Misshandlungen musste er den Arbeitsdienst verrichten. - Ich sah ihn nie wieder.
Am 19. März 1944 besetzten die Deutschen Ungarn. Ich spürte eine starke Unruhe bei meiner Mutter und Tante Piri. Die Tante lebte seit Anfang 1943 bei uns, nachdem sie aus der Slowakei geflohen war.
Dass meine Großeltern und weitere Familienmitglieder schon 1942 aus der Slowakei deportiert und ermordet worden waren, erfuhr ich erst viele Jahre später.
Ab dem 5. April waren wir verpflichtet, den gelben Stern zu tragen. Eines Tages nahm meine Mutter mich zu sich und erklärte mir, dass ich mit Tante Piri heimlich über die Grenze in die Slowakei gehen würde. Ich sollte mich taubstumm stellen.
Beim Abschied auf dem Bahnsteig drückte mich meine Mama so fest an sich, dass ich fast keine Luft mehr bekam. Tränen standen in ihren Augen. Ich verstand gar nicht, warum sie so traurig war, wo sie doch bald nachkommen würde. Schnell umarmte ich noch meinen kleinen Bruder Tamás, bevor ich in den Zug stieg. Ich ahnte damals nicht, dass ich sie zum letzten Mal sah. Nach der lebensgefährlichen Flucht über die Grenze verließ mich auch noch meine Tante, nachdem sie mich fremden Menschen übergab. Zuletzt lebte ich bei zwei älteren Schwestern. Ich wartete immer noch täglich auf ein Lebenszeichen meiner Mutter. Vergeblich.
Ich fühlte mich einigermaßen sicher - bis zu jener Nacht, in der ich durch lautes Klopfen aus dem Schlaf gerissen wurde. Das Gebrüll lauter Männerstimmen drang durch die Wohnung: „Zusammenpacken! Mitkommen!“ Ich zog mich weinend an. Dann stand ich im Wohnzimmer drei Uniformierten gegenüber. Plötzlich bemerkte ich, dass ich meine Puppe Erika im Bett vergessen hatte. Aber ich durfte sie nicht mehr holen. Sie brachten uns in ein jüdisches Altersheim, von dem tägliche Transporte ins Sammellager Sereď gingen. Von dort wurde ich dann mit dem letzten Transport deportiert. Im überfüllten Viehwaggon wurde die Luft immer weniger, mein Hunger immer quälender, meine Angst immer größer.
Plötzlich stoppte der Zug. Die Waggontüren wurden aufgerissen. Scheinwerferlicht blendete mich. Lautes Gebrüll der SS-Männer mit Lederpeitschen mischte sich mit dem scharfen Bellen der Schäferhunde. Eiseskälte schlug mir entgegen. Zitternd stand ich am 2. November 1944 auf der Rampe in Auschwitz-Birkenau! Damals ahnte ich nicht, dass meine Mama und mein siebenjähriger Bruder Tamás bereits vier Monate vorher dort angekommen waren und direkt nach der Ankunft vergast wurden. Im Laufschritt wurden wir in ein Gebäude getrieben, wo wir uns nackt ausziehen mussten. Ich hatte die blaue Jacke an, die meine Mama für mich gestrickt hatte, und brachte es nicht übers Herz, sie auszuziehen.
„Ausziehen!“ Da streifte ich die Jacke ab und legte sie sorgfältig gefaltet neben mich auf den Boden. Die Aufseherin kam anmarschiert und schleuderte meine Jacke mit ihrem Fuß weg. Ich versuchte die Tränen zurückzuhalten. Dann näherte sich mir eine Frau mit einer Schere in der Hand. Ohne zu zögern, schnitt sie mir meine geliebten Zöpfe ab und warf sie auf einen großen Haufen Haare. Dann wurde ich kahlgeschoren. Entsetzt starrte ich auf meine abgeschnittenen Zöpfe. Es war, als ob man mir auch den letzten Schutz genommen hätte.
Am nächsten Morgen folgte die Registrierung. Man trieb uns ganz früh aus den Baracken hinaus in den Schnee. Ich war vollkommen verstört. Plötzlich tauchte eine Aufseherin direkt neben mir auf. Sie flüsterte mir mit energischer Stimme ins Ohr: „Du bist sechzehn und versuche dich ja nicht jünger zu stellen.“ Ich war doch erst zwölf. Sollte ich lügen? Ich wurde weitergeschoben und stand auch schon vor einem der Tische: „Name?“ - „Eva Diamant“, flüsterte ich. „Alter?“ - Zögernd antwortete ich: „Sechzehn.“ Dann wurde mir eine Nummer auf meinen linken Unterarm tätowiert. Ab diesem Zeitpunkt war ich nur noch die Nummer A-26877.
Zu den stundenlangen Appellen draußen im eiskalten Schnee, wo mir die Finger und Zehen erfroren, kamen noch die Misshandlungen dazu. Ich wurde immer schwächer und lag nur noch auf der Pritsche. Eines Tages bekam ich mit, dass die Deutschen alle Häftlinge zusammentrieben: „Raus! Aufstellen! Marsch! Raus!“ Ich blieb liegen, hatte keine Kraft mehr zu reagieren. Dann war es auf einmal still in der Baracke. Neben mir lagen noch einige Frauen regungslos. Sie waren tot.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dalag. Doch irgendwann spürten meine vom Fieber brennenden Lippen eine Hand, die mich mit kaltem Schnee fütterte. Als mein Blick langsam klarer wurde, erkannte ich einen russischen Soldaten, der sich lächelnd über mich beugte. Die menschliche Wärme in seinem Blick tat mir gut. Es war der 27. Januar 1945, und ich lebte.
Nachdem ich im Lazarett versorgt worden war und langsam wieder zu Kräften kam, erreichte ich am 18. September 1945 Budapest, in der Hoffnung, meine Familie wiederzusehen. Mein Onkel entdeckte mich auf einer der Listen der Überlebenden aus den Lagern und holte mich ab. Er sah, dass ich mit meinen Augen nach meiner Mutter suchte, und sagte mir: „Es kommen immer wieder Transporte. Wir werden warten.“
Mit siebzehn lernte ich meinen Mann Andor Szepesi kennen. Auch er verlor den größten Teil seiner Familie in der Shoah. Wir heirateten, und 1952 kam unsere erste Tochter, Judith, zur Welt. Dann wurde mein Mann von der ungarischen Handelsvertretung für zwei Jahre nach Frankfurt am Main geschickt. Nachdem wir 1956 nach der ungarischen Revolution nicht mehr nach Ungarn zurückkonnten, blieben wir in Deutschland. 1964 kam unsere zweite Tochter, Anita, zur Welt. Wir eröffneten ein Geschäft und lebten uns hier langsam ein.
50 Jahre habe ich über meine Geschichte geschwiegen. Dann fing ich langsam an, sie aufzuschreiben. Viele Schüler fragen mich bei meinen Lesungen: „Wie können Sie im Land der Täter leben?“ „Das ist Schicksal“, antworte ich. Am Anfang hatte ich große Angst, hier zu sein. Aber ich kann nicht hassen. Dafür habe ich als Kind zu viel Liebe bekommen.
Täglich denke ich an meine ermordete Familie. Und ich frage mich oft: Wieso habe ich überlebt? Es ist meine Lebensaufgabe geworden, für alle die zu sprechen, die nicht mehr sprechen können. So bin ich hiergeblieben, um aufzuklären. Glauben Sie mir, es fällt mir nicht leicht, mit 91 Jahren hier zu stehen. Aber wenn ich nur ein paar Menschen mit meinen Worten erreiche, hat es sich schon gelohnt.
(Beifall)
Ich bin dankbar für die wertvolle Arbeit der vielen jüdischen Organisationen, zum Beispiel der Claims Conference, die sich gegen die Relativierung und die Holocaustleugnung einsetzt, oder des „Treffpunkts der Überlebenden der Shoah“, ein geschützter Raum der Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland. Es ist leider auch schon für die zweite und dritte Generation der Shoah notwendig.
Und dann kam der 7. Oktober. Der Tag, an dem der tödlichste Angriff gegen Juden seit der Shoah stattfand. Der Tag, an dem die Terrororganisation Hamas Babys, Kinder, Eltern und Großeltern in Israel bestialisch ermordete - nur weil sie Juden waren. Der Tag, an dem die Hamas glücklich tanzende Jugendliche auf dem Nova-Friedensfestival vergewaltigte, ermordete und verschleppte. Meine Enkelin, die in Israel lebt, hätte auch dort sein können. Sehr geehrte Damen und Herren, es hätten auch Ihre Kinder sein können.
Immer noch sind über 130 Geiseln in den Händen der Hamas. Ich hatte so gehofft, dass ich das heute nicht mehr sagen müsste. Bringt Sie nach Hause! Jetzt!
(Beifall)
Der 7. Oktober, der Tag, der für uns Juden auf der Welt alles veränderte. Mein Alltag hier in Deutschland ist seitdem geprägt von erhöhten Sicherheitsmaßnahmen, von vermehrten antisemitischen Vorfällen, von Ängsten, von Gesprächen, die mit „Ja, aber“ beginnen, oder von dem so lauten Schweigen aus der Mitte der Gesellschaft.
(Vereinzelt Beifall)
Mir selbst wurden Lesungen in Schulen kurz nach dem 7. Oktober abgesagt - da für meine Sicherheit nicht gesorgt werden könnte. Die letzten Male sprach ich in Schulen unter Polizeischutz.
Ich weiß, dass ich das Trauma der Shoah an meine Kinder, Enkel und Urenkel weitergegeben habe. Aber dass sie jetzt diese Existenzängste auch real erleben müssen, schmerzt mich sehr. Die Shoah begann nicht mit Auschwitz. Sie begann mit Worten. Sie begann mit dem Schweigen und dem Wegschauen der Gesellschaft.
(Beifall)
Es schmerzt mich, wenn Schüler jetzt wieder Angst haben, in die Schule zu gehen - nur weil sie Juden sind. Es schmerzt mich, wenn meine Urenkelkinder immer noch von Polizisten mit Maschinengewehren beschützt werden müssen - nur weil sie Juden sind. Ich wünsche mir, dass nicht nur an den Gedenktagen an die ermordeten Juden erinnert wird, sondern auch im Alltag an die lebenden. Sie brauchen jetzt Schutz.
(Beifall)
Es erschreckt mich, dass rechtsextreme Parteien wieder gewählt werden. Sie dürfen nicht so stark werden, dass unsere Demokratie gefährdet wird.
(Beifall)
Wir sind kurz davor.
Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft nicht schweigt, wenn am Nebentisch antisemitische Äußerungen fallen. Wer schweigt, macht sich mitschuldig.
(Beifall)
Ich wünsche mir, dass Studenten ihre jüdischen Kommilitonen unterstützen, wenn sie angefeindet werden.
(Beifall)
Ich bin dankbar, dass unsere Regierung sich gleich nach dem 7. Oktober mit Israel solidarisiert und sich hinter die jüdischen Gemeinden in Deutschland gestellt hat.
(Beifall)
Ich fühle mich durch unsere Demokratie beschützt - noch. Aber es macht mir große Sorgen und ich bin traurig, zu sehen, was sich auf den Straßen abspielt: die Bereitschaft zur Gewalt, der Judenhass, der Menschenhass. Warum verteidigen nicht alle Menschen unser wunderbares Grundgesetz und unsere Demokratie, in der wir leben?
(Beifall)
Es ist großartig, dass so viele Menschen in den letzten Wochen auf die Straße gegangen sind,
(Vereinzelt Beifall)
um gegen Rechtsextreme zu demonstrieren. Ich wünsche mir jedoch, dass diese Demonstranten auch im Bekanntenkreis und am Arbeitsplatz, wenn menschenfeindliche und antisemitische Äußerungen fallen, laut widersprechen.
(Beifall)
Ich bin sehr dankbar, dass ich viele Menschen kenne, die sich gegen Antisemitismus und für gegenseitigen Respekt engagieren. Ich bin dankbar für die Menschen, die nach dem 7. Oktober auch ohne viele Worte einfach für uns Juden da waren. Warum nur so wenige?
Ich sage immer zu den Menschen, mit denen ich spreche: Ihr habt keine Schuld für das, was passiert ist. Aber ihr habt die Verantwortung für das, was jetzt passiert.
(Beifall)
Ich wünsche mir mehr Menschlichkeit, Empathie und dass wir alle ohne Angst in Sicherheit und in Frieden leben können.
(Beifall)
Liebe Mama, ich danke dir, dass du mich damals gerade noch rechtzeitig auf die Flucht geschickt hast. Wie stark musst du gewesen sein, dass du mich, deine elfjährige Tochter, in dieser grausamen Zeit ins Ungewisse gehen ließest - in der Hoffnung, dass ich überlebe. Und jetzt stehe ich hier im Bundestag, um Zeugnis abzulegen. Es war nie wichtiger als jetzt; denn: „Nie wieder!“ ist jetzt!
(Beifall)
Ich danke Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Anhaltender Beifall - Die Anwesenden erheben sich)
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